Zu Beginn muss ich einmal dem Silberrücken meinen Dank aussprechen, der als unfreiwilliger Supporting-Act den roten Faden sowohl für diesen Beitrag als auch für viele vorangegangene Texte geliefert hat. Ohne seine Brille der Brandenburgischen Ahnungslosigkeit wäre ich schon an so manch erzählenswerter Geschichte vorbeigestolpert.
Start im Gartenparadies
So starten wir also heute in Blumberg bei Ahrensfelde. Noch verstört von der Anfahrt auf der B 158 mit den speckgürteligen Unschönheiten rechts und links davon, tapern wir vom erstaunlich pittoresken Dorfkern mit trutzigem Kirchturm und entengeschmücktem Teich direkt in den Lenné-Park hinein. Was für ein Kontrast! Die Sonne strahlt, als wollte sie ihre Abwesenheit der letzten Wochen wieder gut machen. Nicht nur der See inmitten des Parks ist gut gepegelt auch die kleinen Zu- und Abflüsse haben wohl seit Jahren nicht mehr so viel Wasser gesehen. Dank den nahezu pausenlosen Regentagen der letzten Wochen.
Seit Peter Josef Lenné hier um 1840 seine landschaftsgartenbringende Hand anlegte, hat der Park eine wechselvolle Geschichte erlebt. Die hat vor allem mit Menschen zu tun, deren Hände von Neuordnungswillen geleitet waren. Erst seit Mitte der 80iger und der Zeitenwende wurde mit viel Engagement und noch mehr Geld gerettet, was noch zu retten war. Schlechter erging es dem von Friedrich August Stüler erdachten Schloss. Es brannte 1945 in den letzten Kriegstagen ab. Wo einst das Schloss stand, befindet sich heute eine Schule und ein Kindergarten. Von diesem erhöhten Standpunkt blicke ich auf den etwas tiefer liegenden Park. Der lange vermisste blaue Himmel spannt sich darüber hin, die Vorfrühlingssonne glitzert im Schloßsee und lockt mich über den weiten solitairbestandenen Rasen zu sich. Wenngleich der Park sein sommerlich-grünes Blattwerk noch nicht ausgepackt hat, fachen die Krokusse und Blausterne meine Vorfreude schon an. Die Weiden umgibt bereits ein wahrnehmbarer grüner Schimmer und ich möchte stehenbleiben und dieses kleine Vorfrühlingstheater wirken lassen. Der Silberrücken und vor allem die Laufmaschine wollen aber weiter. So umrunden wir den See auf den vorgegebenen Wegschleifen und hinter jeder Biegung erscheint eine meterdicke Eiche, die älter und bizarrer aussieht, als die vorhergehende. Ich bin ganz sicher, sie alle haben Lenné noch persönlich gekannt.
Feldmarkhölle
Jenseitig führt der Weg aus dem Lennéschen Gartenparadies talaufwärts. Wie mit dem Lineal gezogen ist plötzlich Schluss mit arrangierten Baumriesen und die Barnimer Feldmark liegt ausgebreitet vor uns. Wieder so ein Kontrast, der überrascht. Unser Plan ist, entlang heckenbestandener Feldwegkulisse mit schönen Weitblicken nach dem nächsten Dorf, Krummensee, zu flanieren. Das erwartete klassische Bühnenbild ist jedoch abgebaut. Stattdessen laufen wir entlang eines progressiven Baustellen-Kulisse. Durchfahrt verboten! Naja, mal sehen wie weit sich das zieht. Zu Fuß wird es schon gehen. Der Weg ist geschoben und verbreitert, teils planiert und geschottert. Rechts und links türmen sich je nach Bauabschnitt, Steine, Abraum oder Schotter auf. Aber die dicken Bäume sind vorbildlich einkassettiert.
Und dann… knipst jemand einfach die Sonne aus. Auf einmal ist der Himmel wolkenverhangen und der Wind frischt ordentlich auf. Als im Paradies noch die Sonne schien, haben wir unserer Windjacken im Auto gelassen. Die Kapuze an der Fleecejacke des Silberrückens hat kaum schmückenden geschweige denn windabweisenden Charakter. Zu allem Überfluss kommt der Wind auch noch von vorn, was bedeutet, dass das Kapuzetragen dauerhaft von Hand betreut werden muss. Wohl dem Wanderjenossen, der seine dicke Wollmütze aus dem Rucksack zaubert und zwei Hände in die wärmenden Taschen stecken kann. Trotz Mütze sinkt meine Laune nun merklich und erst recht als der Himmel weiter an Dramatik zunimmt und sich nicht einmal der erwartete Weitblick einstellen will. Der Horizont ist verhangen und in alle Himmelrichtungen mit Windrädern und Strommasten bepflastert, die teils bis an den Weg heranreichen.
Gott ist das hässlich! Der seinerseits scheint diesen Landstrich zwischenzeitlich verlassen zu haben. Keine Menschenseele ist weit und breit zu sehen. Nur die Horden apokalyptischer Krähenvögel krächzen aufgebracht hinter uns her. In welcher dystopischen Welt sind wir denn hier gelandet? Unvermittelt muss ich an eine gruselige Streaming-Serie denken, die ich kürzlich sah. Durch eine Art Loch gelangt der eine oder andere Darsteller in eine Parallelwelt, die der eigenen Welt gleicht. Nur ist sie düster, tot und verlassen. Einzig ein Monster lebt darin, dass alles und jeden frisst, der sich hineinverirrt hat. Ich erzähle dem Silberrücken davon. Der lacht mich nicht mal aus und stapft schneller durch die bedrückende Einöde. Es wird noch ein langer Weg bis nach Krummensee.
Licht am Ende des Weges
So muss ich mich meinen eigenen Gedanken zuwenden. Die Windräder kommen dem Weg bedrohlich nahe. Ich frage mich, wie groß die Chance wohl ist einem materialermüdeten, abgerissenen, sich wild um die eigene Achse drehenden Rotors lebend zu entkommen? Und wer uns hier je finden wird?
Da klingelt es hinter uns. Ich springe reflexartig zur Seite. Ein Pärchen Radfahrer kämpft sich an uns vorbei. Beide ohne Mütze und ohne Rucksack oder anderweitige Kampfausrüstung. Ob sie auch durch das Loch gefallen sind?
„Nicht erschrecken!“, ruft mir der Herr zu.
„Schon passiert“, antworte ich wahrheitsgemäß. Die beiden trempeln ordentlich an, dennoch fordert der von Baumaschinen zerfahrene Weg seinen Schiebetribut. Ein Stück weiter ist der Weg wieder besser und schnell werden sie von der Einöde verschluckt. Ich gebe meinen Gedanken doch lieber eine positive Richtung und hoffe auf eine menschengemachte Einkehrmöglichkeit in Krummensee. Ein Königreich für Kaffee und Kuchen! Um der Hoffnung Nachdruck zu verleihen, checke ich, was Google Maps dazu zu sagen hat. Und tatsächlich prangt auf dem Kartenausschnitt an der Dorfstraße ein Tassen-Piktogramm mit der Beschriftung Dr. Schulz Destillerie. Google sagt auch das geöffnet ist. Der hinterlegte Webseitenlink verspricht lediglich eine digitale Baustelle für eine neue Webseite. Viel Interpretationsspielraum also. Nun wir werden sehen.
Kaffee-Kuchen-Paradies
Just schälen sich Häuser aus dem düsteren Horizont. Krummensee – das muss es sein! Dennoch dauert es weitere quälende 25 Minuten, bis wir in Downtown-Krummensee einwandern. Die Destillerie des Dr. Schulz ist in großen Lettern mit PILZHOF tituliert, was sich dahingehend aufklärt, dass hier Speisepilze wie Shii-take, Austernseitling u.a. nach den Richtlinien des ökologischen Landbaus gezüchtet und abgeschnitten im Hofladen in der Verkaufsauslage liegen.
Im Innenhof werden schon enthusiastisch die Beete frühlingsfein gemacht. Im Sommer scheint mir der Hofgarten ein wunderbares Plätzchen zu sein. Heute flüchten wir aber erst mal in den Hofladen. Der ist so klein, dass man sich zu zweit kaum drehen kann. Dennoch ist die Auswahl erstaunlich groß. Die gute Frau hinter der Ladentheke wartet geduldig, bis wir uns zig-mal im Kreis gedreht haben und endlich sagen, was wir wollen. Ich bestaune die vielen hauseigenen Obstbrände und -liköre. Ein Kaffee aber soll es sein. Der Silberrücken übernimmt die Verhandlung:
„Hätten Sie denn Kaffee?“
„ Ja, hab` ich. Klein oder groß?“
„Groß. Und du Dicke?“ (Das soll ich sein.)
„Klein, bitte“, antworte ich.
„Ham Sie da so eine Maschine?“ (Na, was denn wohl sonst?)
„Ja, da drück ich nur auf`n Knopf.“
„Willst du mit Milch?“ (Frage geht an mich)
„Äh, nein.“
„Ich nehm mit Milch. Machen Sie die extra oder ham sie so eine Maschine, wo man so …“
„Ja, wir können Milch aufschäumen. Muss ich nur `nen anderen Knopf drücken.“
„Dann nehm´ ich so einen großen mit Milch. Also, so Milchkaffee oder sowas?“
„OK.“
(Das will ich jetzt aber auch) „Für mich auch bitte, auch in groß.“
„Du willst auch Zucker, oder Dicke?“ (wieder bin ich gemeint)
„Ja, bitte.“
„Und du willst einen Kleinen?“
„Nein, groß.“ (Hab ich doch schon gesagt)
Ich hatte zwischenzeitlich schon das Fensterbrett mit dem Kuchen erspäht und bevor sich das Kaffee-Frage-Mantra mit Kuchen wiederholt, bestelle ich schon mal diese unverschämt lecker aussehenden, selbstgemachten Kokosmakronen. Mein Verhandlungsführer geht noch kurz in die zweite Runde wegen der Stückzahl, aber schließlich haben wir die Herkulesaufgabe Kaffee zu bestellen, gemeistert. In dem kleinen, gemütlichen Gastraum sitzen wir ganz alleine, die Kaffeemaschine knattert und röchelt vor sich hin und wir sind froh der Feldmarkhölle entronnen zu sein. Die Kokosmakronen sind innen fluffig und außen knusprig, also genau wie sei sein sollen und auch der Kaffee aus der Maschine mit zwei Knöpfen ist wunderbar.
Leider sitzt uns die Zeit ein bisschen im Nacken, denn das Nesthäkchen muss noch abgeholt werden. So geht der Silberrücken schon mal an der Theke zahlen und ich warte draußen. Und ich warte und warte. Gerade will ich die nette Hofladen-Frau erlösen, da geht doch noch die Tür auf. Jetzt aber hopp, hopp!
Der Geist aus der Flasche
Zügig wandern wir an der Kirche vorbei und biegen in eine Seitenstraße ein, um auf einem anderen Weg nach Blumberg zurückzulaufen. Vielleicht ist der Rückweg ja ein bisschen schöner. Der Silberrücken eröffnet mir, dass er nochmal 200g Makronen mitgenommen hat. Da haben wir für morgen noch was. Nun, da muss ich doch gleich probieren, ob die genauso gut schmecken, wie die erste Charge. Ich greife kurz vor: Beim Zieleinlauf waren noch genau zwei Stück übrig.
Und er hält mir stolz einen Flachmann entgegen. Für die abendliche Gemütlichkeit hat er auch noch was Geistvolles erstanden. Aronia-Likör. Deshalb hat das Bezahlen also so lange gedauert. Da mir schon wieder kalt ist und ich die endzeitliche Stimmung des Hinweges noch immer nicht ganz los bin, ist gegen einen Schluck zur inneren Erwärmung wohl nichts einzuwenden. Ich mokiere mich noch über das „Medizinfläschen“, das durch seine Form und Farbe genau einen solchen Eindruck erweckt und das den Dr. Schulz der Destillerie plötzlich in einem ganz neuen Licht erscheinen lässt. Dann lasse ich einen guten Schluck durch meine Kehle rinnen und ja – es schmeckt auch wie Medizin. Genaugenommen drängen sich Erinnerungsbilder auf und ich schmecke den lecker-klebrigen Geschmack verhusteter Kindertage, als Fagusan noch allein für Linderung sorgen musste. Jetzt ist der Silberrücken neugierig und will auch probieren. Als Nicht-Fagusankenner kann er die Assoziation nicht herleiten und so belässt er es bei dem verständnislos-mitleidigen Blick, den er immer aufsetzt, wenn ich aus Vorwendezeiten berichte. Ich nehme noch ein paar Schlucke zur Absicherung des Geschmackseindruckes und schon versetzt mich die Flüssigkeit in Heiterkeit. Die ist auch dringend nötig, denn der Rückweg ist ziemlich genauso hässlich wie der Hinweg. Nur anders hässlich.
Der Weg ist asphaltiert, eine schmale Straße also. Rechts und links stehen aus der Feldmark gestampfte Einfamilienhäuser auf kleinen, rollrasenverlegten Gartengrundstücken. Die straßenbegleitenden Robinien wurden von den örtlichen Baumpflegern fachgerecht skelettiert. Autos und Motorräder überholen uns und wir müssen auf dem Seitenstreifen zwischen den am Boden liegenden Skelettresten auf ein Zeitfenster zum Weiterlaufen warten. Das Aronia-Fagusan-Fläschen passt ausgenommen gut in meine Hosentasche und spendet mir mit seinem Inhalt in den Wartepausen Trost. Nun ist mir auch nicht mehr kalt und als wir von den Robinien-Skeletten rechts abbiegen müssen, erscheint mir die Einöde nicht mehr ganz so schockierend. Linker Hand durchdringen sogar ein bis zwei Sonnenstrahlen die pompös-graue Wolkenlandschaft und beleuchten kitschig einen Sprung Rehe auf der weiten von Überlandleitungen durchzogenen Ebene. Hat eine höhere Macht doch noch ein Einsehen mit uns?
Crescendo
Auf der Zielgeraden erwartet uns dann noch ein Crescendo. Die Windräder stehen so dicht am Weg, dass ich glaube, eines der sich drehenden Rotorblätter reißt mir gleich die Mütze vom Kopf. Und das sich mechanisch wiederholende Windgeräusch ist mir auch nicht geheuer. Dafür trägt der echte Wind von der anderen Seite jetzt den ansteigenden Geräuschpegel der nahen A 10 herüber. Ich bemühe ein letztes Mal meinen Aronia-Fagusan. Das hilft die Absurdität dieses Tages klarer zu sehen. Akustisch eingeklemmt zwischen Autobahn und Windpark halten Heckensträucher beidseitig des geschotterten Wegs die Stellung.
Als dann noch ein Verkehrshubschrauber über uns kreist, verstehe ich warum sie so geduckt aussehen. Ich erwarte noch den Überschallknall einer Militärmaschine als klanglichen Höhepunkt. Der bleibt jedoch aus. Schade, er wäre ein guter akustischer Abschluss gewesen. Kurz bevor wir wieder Blumberg erreichen durchbricht ein Sonnenstrahl das exquisite Himmelsgrau und ich erkenne den Fernsehturm, wie er sich weit hinten in den Horizont spießt. Und als Verheißung der nahenden Zivilisation durchbricht das golden-leuchtende M auf seinem Betonstamm die Baumreihe am Feldrand.
TIPP
Ich habe beim besten Willen keinen. Vielleicht hat ein geneigter Leser an dieser Stelle etwas beizutragen?Start: Parkplatz Schloßstraße, 16356 Ahrensfelde (OT Blumberg)
Ziel: Parkplatz Schloßstraße, 16356 Ahrensfelde (OT Blumberg)
Rundwanderweg: ja
Länge: 12,1 km
Schwierigkeitsgrad: mittel
sonnig / schattig: 80/20
Das ist kein guter Tipp! Teile ihn NICHT mit deinen Freunden!
4 Comments on “Mit Fagusan durch die Feldmarkhölle”
Ein sehr schöner Post. Mit schönen Fotos. 🙂 Liebe Grüße aus Vorpommern. 🙂
Hallo Jens,
vielen Dank und viele Grüße👋🏻
Liebe Sandra,
eine höchst unterhaltsame Schilderung Eures Stadtrand-Abenteuers ganz besonderer Sorte – gut, dass es wissende Begleiter und hilfreiche Flüssigkeiten gibt sowie Zufälle, die einem letztere unterwegs ins Täschchen spielen … und wacker, wie Ihr das bis zum Ende durchgestanden habt. Schönen Gruß, Gregor
Lieber Gregor,
vielen Dank fürs Durchhalten beim Lesen! Als Auskenner auf der Berliner Gürtellinie hast Du sicher viele schöne Erlebnisse im Gepäck. Insgesamt ist der Ruf des Berliner Stadtrandes weitaus besser, als der den ich ihm mit diesem Beitrag zuerkannt habe. Ich werde an dieser Stelle sicher noch Rehabilitationsarbeit leisten.
Viele Grüße
Sadnra